Hochbegabte Kinder fallen auf

Besonders begabte Kinder sind in manchem anders als ihre Altersgenossen. Das kann – muss aber nicht – zu Schwierigkeiten führen. Manchmal ist allerdings leider erst das Auftreten von Auffälligkeiten der Ausgangspunkt für das Erkennen einer Hochbegabung.

Im Kindergarten fällt das Kind auf,

  • weil es sich langweilt
  • weil es manche Spiele „doof“ findet und deshalb stört, um wahrgenommen zu werden
  • weil es sich für Dinge interessiert, für die es andere für „zu jung“ halten
  • weil es sich in die Gruppe nicht einbringen kann und damit häufig zum Außenseiter wird.

In der Schule fällt das Kind auf,

  • weil es sich ständig unterfordert fühlt
  • weil es als Streber oder Besserwisser gilt und unbeliebt ist
  • weil es sich als Clown der Klasse aufführt, damit die Mitschüler es akzeptieren und die Lehrer es wahrnehmen
  • weil es sich von Lehrern und Mitschülern nicht verstanden und nicht akzeptiert fühlt
  • weil es trotz bekannter Intelligenz „unerklärlich“ schwache Leistungen zeigt.

In seiner Umgebung fällt das Kind auf,

  • weil es an den üblichen „altersgemäßen“ Freizeitaktivitäten keinen Gefallen findet
  • weil es perfektionistisch und sich selbst und Anderen gegenüber sehr kritisch ist
  • weil es anstelle körperlicher die geistig-verbale Auseinandersetzung bevorzugt
  • weil es sehr sensibel für zwischenmenschliche Wechselwirkungen ist
  • weil es intellektuell zwar seinem Alter um Jahre voraus ist, gefühlsmäßig aber meist seinem Alter entsprechend reagiert
  • weil es sich von der Umwelt isoliert fühlt.

In dem Diagramm wird die Verteilung deutlich: Auch die überdurchschnittlich begabten Kinder sind in Kita und Schule bereits unterfordert und brauchen zusätzliche Förderung. Ohnehin ist die Grenze zur Hochbegabung fließend und ein IQ kann auch nicht punktgenau gemessen werden. (Die Differenz von 99,8 % zu 100 % entsteht durch Rundungsverluste.)

Wie viele Hochbegabte gibt es?

Unser Augenmerk liegt hier auf der intellektuellen Hochbegabung. 

Was verstehen wir unter intellektueller Hochbegabung?

Hochbegabung kann als Entwicklungs-Vorsprung im intellektuellen Bereich verstanden werden. Sie wird mithilfe von Intelligenztests gemessen („Intelligenzquotient – IQ“).

Intelligenz umfasst die Denkfähigkeiten, die

  • zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen dienen
  • das Lösen von Problemen ermöglichen
  • helfen, neue Anforderungen gut zu bewältigen und sich in neuen Situationen
    schnell zurechtzufinden.

Die meisten Menschen sind normal oder durchschnittlich begabt:
68,2 % haben einen Intelligenzquotienten (IQ) zwischen 85 und 115. (Der Mittelwert liegt immer bei 100.) Eine größere Gruppe von 13,6 % ist überdurchschnittlich begabt (IQ von 115 – 129). Hochbegabt sind ca. 2,2 % (IQ von 130 und darüber). Für die unterdurchschnittlichen Begabungen gilt die gleiche prozentuale Verteilung: 13,6 % (IQ 70 – 84) und 2,2 % (IQ unter 70).

Die soziale und emotionale Entwicklung

„Er ist ein kluges Kind, aber sozial noch nicht soweit“, hören Eltern oft beim Gespräch mit den Erzieherinnen oder Lehrkräften. Dies ist häufig eine Fehleinschätzung:
Gerade hochbegabte Kinder haben es sehr schwer, Spielkameraden zu finden, denn sie haben oft nur wenige Interessen mit Gleichaltrigen gemeinsam. Deshalb spielen sie viel allein. Mit älteren Kindern oder Erwachsenen kommen die Kinder aber oft sehr gut zurecht.

Die emotionale Belastung kann bei hochbegabten Kindern höher sein als bei anderen Kindern, denn sie verstehen bereits sehr viel – z.B. aus den Nachrichten – haben aber noch nicht die emotionale Stabilität, es auch zu verarbeiten. Unglücke, Ungerechtigkeiten können sie sehr beschäftigen.

Perfektionismus wird besonders begabten Kindern oft nachgesagt. Hier kommt zum Ausdruck, dass sie sich im Geist Dinge schon sehr genau vorstellen können, bevor sie versuchen, sie zu bauen oder zu malen. So gut wie es im Kopf aussieht, kann es auf Anhieb aber kaum gelingen. So sind sie oft sehr enttäuscht und brauchen Zuspruch, nicht gleich aufzugeben, sondern es mehrmals zu versuchen.
Sie haben einen hohen Anspruch an das, was sie tun und es fällt ihnen schwer, Zugeständnisse zu machen. Hier ist das Vorbild von Erwachsenen sehr wichtig, die ihnen zeigen, dass sie selbst bei einem Misserfolg nicht gleich aufgeben, sondern es wieder und wieder versuchen.

Herausforderungen

In unserer Gesellschaft und insbesondere bei Lehrkräften, Schülern und Eltern besteht das Vorurteil, hochbegabte Kinder zeigten immer auch außergewöhnlich gute Leistungen in der Schule. Für viele hochbegabte Kinder trifft dies auch durchaus zu. Eine große Anzahl dieser Kinder entspricht aber gar nicht dieser Vorstellung. Diese Kinder sind anscheinend überhaupt nicht an Kindergarten oder Schule interessiert, haben schlechte Noten und verfügen häufig kaum über soziale Kontakte.

Diese Kinder verbergen ihre besonderen Begabungen, weil sie aufgrund langer Erfahrungen Angst vor Nachteilen haben. Sie haben das Gefühl, von Niemandem verstanden zu werden. Sie befürchten – bewusst oder unbewusst – sozialen Druck von Eltern, Verwandten, Gleichaltrigen, Erziehern und Lehrern und wollen diesen vermeiden.

Durch die fehlende Bestätigung und Anerkennung fühlen sich diese Kinder „falsch“ und entwickeln nur wenig Selbstbewusstsein. Bei Mädchen ist der soziale Druck zur Anpassung aufgrund längst überholt geglaubter, aber dennoch immer existenter Rollenvorstellungen meist höher. Daher werden immer noch sehr viel weniger Mädchen als hochbegabt erkannt, obwohl eine Gleichverteilung der Intelligenz am wahrscheinlichsten ist.
Es gibt zur Zeit keine einheitliche anerkannte Definition, was Hochbegabung eigentlich ist. Allgemein – aber doch sehr unpräzise – lässt sich sagen, dass das hochbegabte Kind Gleichaltrigen auf musischem, sportlichem oder intellektuellem Gebiet weit voraus ist. Während es für musische und sportliche Begabungen in unserer Gesellschaft eine sehr hohe Akzeptanz gibt, trifft dies bei einer intellektuellen Begabung häufig nicht zu. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden.

Begabung ist lediglich ein Potenzial. Um dieses Potenzial in Leistung umsetzen zu können, ist es notwendig, dass die besondere Begabung von Eltern, Umfeld und Schule erkannt und akzeptiert wird und das Kind eine entsprechende Förderung erfährt. Diese Begabung zu erkennen, setzt aber das Wissen um Hochbegabung voraus.
Viele besonders begabte Kinder, die nicht passend gefordert und gefördert werden, erleben nicht, wie es ist sich für eine Aufgabe anzustrengen. Und so fehlt ihnen auch die „Belohnung“: Stolz und Freude über das Geschaffte.
Unwillkürlich suchen die Kinder dann nach Möglichkeiten, doch noch diesen „Kick“ zu bekommen. Da die besonders begabten Kinder sehr unterschiedlich sind, tun sie das auch auf sehr unterschiedliche Weise – und nicht unbedingt in einer Form, die von Erwachsenen geschätzt wird…
Hält die Unterforderung länger an, wird es immer schwieriger, die Kinder für eine geistige Anstrengung zu motivieren. Wenn ihnen eine Aufgabe nicht gleich gelingt, denken sie „ich bin zu dumm dafür“ und geben schnell auf. Um aus dieser Haltung wieder heraus kommen zu können, brauchen sie nun sehr viel Unterstützung.

Manche Kinder verweigern sich im Laufe der Zeit immer mehr. Eltern und Lehrer sind meist verblüfft, wenn bei einem Kinde, das in der Schule schlechte Noten hat, sitzenbleibt oder zurückgestuft wird, eine Hochbegabung festgestellt wird. Diese Leistungsverweigerung ist meist auf eine lange, von Erwachsenen nicht bemerkte und manchmal von dem Kind gut versteckte Leidensgeschichte zurückzuführen, die an folgenden beispielhaften, aber authentischen Szenen aus dem Leben hochbegabter Kinder aufgezeigt werden soll:

  • Ein dreijähriges Mädchen interessiert sich für Zahlen und Buchstaben.
    Ihre Mutter bremst sie: „Das hat dich noch nicht zu interessieren, das kommt erst in der Schule.“
  • Ein vierjähriger Junge fragt nach Funktionsweise des Toasters. Eine Freundin meint zur Mutter: „Ich habe zwar auch ein intelligentes Kind .. Aber die Frage würde ich ihm nicht beantworten, das versteht es sowieso noch nicht“.
  • Eine Großmutter erfährt von den Interessen und Fähigkeiten ihres Enkels.
    Sie reagiert darauf – ehrlich besorgt: „Ich kannte auch mal einen, der war zu intelligent, der kam dann in die Klapsmühle“.
  • Eine Mutter fragt Erzieherin, was sie von einer vorzeitigen Einschulung hält, da ihre Tochter liest, rechnet, sich im Kindergarten langweilt und in die Schule möchte.
    Worauf die Erzieherin nur antwortet: „Gönnen Sie dem Mädchen doch noch das Jahr.“
  • Bei der Einschulungs-Untersuchung lässt die Schulärztin ein Kind, das bereits lesen und rechnen kann, Form und Farbe von Bauklötzen nennen. Als das durch die Unterforderung sichtlich genervte Kind die Bauklötze dann auch noch in vorgestanzte Löcher einordnen soll, sagt es:
    „Nä, mach ich nicht. Soll’s sonst noch was sein?“
    Darauf meint die Ärztin zur Mutter: „Na, besonders helle ist der aber auch nicht.“
  • Ein Mädchen zeigt in Grundschule ihr großes Wissen auf einem Teilgebiet.
    Anstatt das Mädchen zu loben, sagt die Lehrerin: „Jetzt nimm mal einen großen Schwamm, wisch all das weg, was du schon weißt, und fang von vorne an.“

Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass diese immer wiederkehrenden Reaktionen dazu führen müssen, dass das Kind sich von Eltern, Bekannten, anderen Kindern und Lehrern nicht verstanden, nicht akzeptiert, nicht so wahrgenommen fühlt, wie es tatsächlich ist. Es hat das Gefühl, es lebe im „falschen Film“.

Die Kinder erkennen – bewusst oder unbewusst – ihre Begabung als Ursache für ihr vermeintliches Problem und fangen an sich zu verleugnen, indem sie Leistungen mit Absicht zurückfahren und ihr Potenzial auf anderen Gebieten „ausleben“ oder alles „in sich hineinfressen“. Einige, häufiger Jungen, spielen den Klassenclown oder werden aggressiv. Andere, häufiger Mädchen, ziehen sich in sich zurück, entwickeln psychosomatische Beschwerden, werden depressiv.

Nachweis von Hochbegabung

Die bislang beschriebenen Verhaltensweisen stellen lediglich Hinweise auf eine mögliche Hochbegabung dar. Ein weitgehend objektiver Nachweis der Hochbegabung kann nur durch einen Intelligenztest bei einem Psychologen erfolgen, der Erfahrung mit hochbegabten Kindern hat.
Bei einem Intelligenzquotienten von 130 und mehr wird im Allgemeinen von einer Hochbegabung ausgegangen. Bei einem Quotienten zwischen 115 und 130 spricht man von einer überdurchschnittlichen Begabung. Der Intelligenzquotient ist ein Versuch, die individuelle Begabung objektiv zu messen und ist daher immer mit einer gewissen Ungenauigkeit verbunden. Ein Kind kann sich zwar aus vielen Gründen bei einem Intelligenztest zurücknehmen, so dass sein Intelligenzquotient unterschätzt wird. Dass ein zu hoher Quotient ermittelt wird, ist aber sehr unwahrscheinlich.

Erfahrene Psychologen sehen Intelligenztests nur als ein Werkzeug zur Diagnose von Hochbegabung an. Sie berücksichtigen auch die 

Ergebnisse einer Vorbesprechung mit Kind und Eltern sowie das Verhalten des Kindes während des Tests. Es sollten außerdem immer zwei Tests verwendet werden, um ein umfassendes Bild zu bekommen.
Intelligenztests scheinen uns erforderlich, wenn Sie gegenüber Kindergarten oder Schule (oder auch sich selbst gegenüber) einen Nachweis brauchen oder wenn Sie selber wissen möchten, auf welchen Gebieten die Begabung besonders hoch ist.

Viele Psychologen verfügen über große Erfahrungen mit Kindern vom anderen Ende des Intelligenzspektrums mit zum Teil problematischen Elternhäusern. Manche Eltern berichteten, dass sie in Einzelfällen den Eindruck hatten, dass diese Erfahrungen und die damit verbundenen Lösungsansätze vorschnell auch auf hochbegabte Kinder mit Schulschwierigkeiten übertragen wurden.

Wurde bei Ihrem Kind ein Intelligenztest durchgeführt, sollten Sie auf einem Ergebnisbericht bestehen, der auch das Profil der Begabungen auf den unterschiedlichen Gebieten aufzeigt.